Ralph Ehestädt (65) ist weit über Berlin in Deutschland bekannt: der bis 2019 Vorsitzende Richter der 35. Schwurgerichtskammer des Berliner Landgerichts sagt am Ende seiner Karriere: „Ich habe immer versucht, auch die Angeklagten durch meine Worte zu erreichen!“
Eine der herausragenden Persönlichkeiten des Kriminalgerichts Moabit geht in Pension. Ehestädt erinnert sich bemerkenswert offen an die geschichtlich bedeutungsvollen Prozesse gegen Grenzkommandeure der DDR, den Fall der „Pferdewirtin“ und: das Raser-Urteil, bei dem erstmals zwei junge Berliner zu „lebenslang“ verurteilt wurden. Bis heute hat das Urteil bestand, dass beide Täter wegen Mordes bzw. versuchten Mordes zu verurteilen waren. Das Interview wurde im August 2019 geführt und ist auch heute noch aktuell, wie das dritte Urteil gegen einer der Ku´damm-Raser erst in dieser Woche zeigt: 13 Jahre wegen versuchten Mordes.
Frage: Herr Ehestädt, immer wieder fiel mir auf, dass Sie selbst selbst in den schlimmsten Mordprozessen als Vorsitzender Richter sehr respektvoll und höflich die Angeklagten behandelten, selbst wenn die Angehörigen der Getöteten mit im Gerichtssaal saßen. Wie haben Sie das geschafft?
Ehestädt: Ich behandle alle Menschen, die im Gerichtssaal sitzen, grundsätzlich als Menschen. Ein Straftäter hat eine Straftat begangen, ob der ein Dieb war oder ein Mörder, aber er bleibt trotzdem Mensch. Ich bin verpflichtet, ihm offen und fair gegenüber zu treten, wie auch den anderen Prozessbeteiligten. Zum Beispiel begrüßte ich alle vor einem Prozesstag mit Handschlag.
Frage: Sie waren 1968 vierzehn Jahre alt. Hat diese Zeit des Aufbegehrens gegen die Eltern etwas mit ihrem Berufswunsch Richter zu werden, zu tun?
Ehestädt: Das hatte garnichts damit zu tun. Ich wusste nicht, was ich machen sollte und habe dann Jura studiert. Das war sehr interessant. Zufällig bin ich dann zum Strafrecht gekommen, als man massiv Richter am Amtsgericht Tiergarten suchte. Zuletzt war ich 25 Jahre lang der Vorsitzende der 35. Großen Strafkammer, einer Schwurgerichtskammer.
Frage: Gibt es Verfahren, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?
Ehestädt: Mit Sicherheit! Aber das sind nicht immer Schwurgerichtsverfahren: z.B. eine Seniorin, die ich immer wieder wegen Diebstahls verurteilen musste. Sie erklärte, dass sie klaue, weil sie keine Familie habe, ihre Nachbarn nicht kenne und einsam sei. Sobald der Ladendetektiv sie aber festnehme, stehe sie wieder im Mittelpunkt. Das hat mich sehr berührt.
Etwas ganz anderes waren natürlich Schwurgerichtsverfahren wie gegen die rechte Hand des Terroristen Carlos, Johannes Weinrich, wegen etlicher Attentate in Frankreich. Dann führten wir den Prozess gegen die Kommandeure an der Grenze und zuletzt das Verfahren um die Ermordung der Christin R.(21), der „Pferdewirtin“, wie sie in der Presse genannt wurde. Da musste und konnte man in die Abgründe der menschlichen Seele blicken.
Frage: Der Prozess um die Ermordung von Christin R. habe Sie fassungslos gemacht, sagten sie 2015 beim Urteil. Sie waren ja damals bereits über 20 Jahre Schwurgerichtsvorsitzender. Was hat Sie da so fassungslos gemacht?
Ehestädt: Das Gesamttatbild: U.a. eine Mutter, die mit ihrem Sohn gemeinsam plant, dessen Bekannte zu töten in vier Anläufen mit den Mittätern, um Versicherungsleistungen zu kassieren. Das fällt schon aus dem Rahmen, aber das Ergebnis auch. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir zuvor viermal Lebenslänglich und einmal vierzehneinhalb Jahre in einem Prozess verhängt hätten.
Frage: 1997, Sie waren erst drei Jahre Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer, verurteilten sie Grenzgeneräle. Sie verlegten ja damals den Gerichtssaal teilweise sogar in ein Krankenhaus in Karlshorst?
Anwort: Es war ein besonderes Gefühl, diese Angeklagten zu verhandeln, weil es alles geschichtliche Bezüge hatte. Auch weil ich West-Berliner war und die Mauer seit meiner Kindheit erlebt hatte. U.a. die Mutter von Chris Gueffroy und Verteidigungsminister Kessler sagten als Zeugen aus. Die Angeklagten zeigten kein Bedauern, dass es die Toten an der Grenze gab. Im Krankenhaus verhandelten wir im Konferenzsaal. Mit zwei Bussen, Richter, Staatsanwälte, Schöffen. Die beiden Angeklagten saßen aufrecht im Bett, frühere Kameraden der Angeklagten saßen auf den Zuschauerbänken, die voll besetzt waren. Letztlich waren sie aber für uns Täter, wie alle anderen auch, auf die wir das Strafrecht angewendet haben. Das waren keine besonders bösen Täter für uns, wir haben das ganz sachlich und ruhig beurteilt.
Frage: Sie rüffelten in Prozessen mit deutlichen Worten zum einen die Staatsanwaltschaft, die schlampig ermittelt habe, weshalb ihre Kammer Terrorist Weinrich beispielsweise freisprach (er war zuvor bereit zu Lebenslang verurteilt worden in einem 1. Verfahren wegen des Maison-de-France- Anschlags in Berlin 1983 zu Lebenslang“ verurteilt), aber Sie sagten auch den DDR-Grenzkommandeuren, dass Sie deren Aussagen absurd finden: wenn diese behaupteten, nichts von Toten an der Grenze zu wissen, sei dass, als wenn ein Unternehmer nicht wisse, was in seiner Fabrik produziert werden. Ist diese Offenheit und Klarheit wichtig in einem Prozess?
Ehestädt: Wir urteilen nicht, weil ein Teil der Öffentlichkeit dieses oder jenes Ergebnis sich wünscht. Für mich war immer wichtig: Ich habe immer versucht, auch die Angeklagten durch meine Worte zu erreichen. Sie müssen das ja verstehen, was wir sagen!
Frage: Sie waren der Vorsitzender der ersten Schwurgerichtskammer in Deutschland, die Autoraser zu Lebenslang verurteilte. Empfinden Sie Stolz deswegen?
Ehestädt: Stolz spielt bei einem Urteil für uns keine Rolle. In gewisser Weise ist man zufrieden, wenn das Urteil vom BGH gehalten wird. Beim Raser-Urteil hatte wir das ja: wir hatten unser Urteil nicht ganz so günstig dargelegt, vielleicht war das ein handwerklicher Fehler. Aber wir standen trotzdem voll hinter unserer Entscheidung, auch wenn der Bundesgerichtshof es aufhob, aber in einem weiteren Prozessanlauf wieder eine Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Haft erfolgte.
Frage: Im Kaiserdamm Fall dagegen urteilte ihre Kammer viel zu milde. Ein junger Mann war im September zu Tode gehetzt worden, so jedenfalls die Medien. Sie verurteilten zwei junge Männer nur zu Bewährungsstrafen wegen Körperverletzung mit Todesfolge in einem minderschweren Fall. Es gab öffentliche Schelte selbst von seriös genannten Medien, im Raser-Fall dagegen wurden sie für das „Lebenslang“ ihrer Kammer gelobt. Wie wirkt das Echo auf ein Urteil auf Sie?
Ehestädt:
Das macht mit einem Richter immer weniger, je älter er wird - in meinem Fall nach 38 Jahren als Richter. Man prüft sich selbst, wird vom BGH geprüft. Man wird einfach ruhiger und ausgeglichener. Im Extremfall kann man aber auch extrem verletzt sein, das ist menschlich. Wir versuchten immer nach bestem Wissen und Gewissen unabhängig zu urteilen. Es wäre sehr schlimm, wenn wir uns danach richteten, was in den Medien oder in der Öffentlichkeit erwartet wird.
Frage: Wie kann die Lücke gefüllt werden, die durch ihr Weggehen entsteht?
Ehestädt: Ich denke, es folgen junge und dynamische Richter. Ich bin auch nicht aus der Welt: wenn es Fragen gibt und ein Rat gewünscht wird, stehe ich natürlich zur Verfügung.
Frage: Wie geht’s weiter, wenn Sie pensioniert sind?
Ehestädt:
Juristisches werde ich nicht mehr tun nach 40 Jahren. Ich habe eine große Familie und Enkel. Ich werde jetzt sicherlich öfter Rasen mähen und vielleicht die alte Märklin- Eisenbahn meines Vaters wieder herausholen. Und Reisen! Es ist ganz gut, wenn man einmal herunterkommt.
Sehr geehrte(r) Leser*in, sehr geehrte(r) Hörer*in!
Ganz herzlichen Dank für ihr Interesse!
Ich setze mich ggf. so schnell wie möglich mit Ihnen in Verbindung!
Gerichtsreporter Morling
Mit unserem Newsletter erfahren Sie die neuesten Nachrichten und Hintergründe per Mail, wenn Sie uns mit einer Spende unterstützen.